Der Pullover trägt mich nicht mehr / Yünden Bir Bellek

Titelseiten der zwei Bücher
Cover: Louis Hofbauer

Lilly Axster
Der Pullover trägt mich nicht mehr
edition assemblage Münster 2022
Broschur | 130*200mm
978-3-96042-127-6 | 2-110

Lilly Axster, Çeviri Dilman Muradoğlu
Yünden Bir Bellek
edition assemblage Münster und Sancı Verlag Istanbul 2022
Broşür | 130 x 200 mm
yaklaşık 192 Sayfa | Seiten | yaklaşık 16€
978-3-96042-132-0 | WG 2-110

Termine zu Lesungen aus dem Roman

Textauszüge

Unser Beruf war die Revolution. Es gibt dafür kein Arbeitslosengeld und keine Rente. Wir sind pleite. Erst hier, im Exil, lachen wir über uns. Wenn wir uns bei schlafenden Hunden entschuldigen. Wenn wir nach langem Sitzen aufstehen wie uralte Leute. Wenn wir schwitzen, obwohl es kalt ist, und in die Hose machen, wenn eine Tür zuschlägt. Wenn wir schmerzen sagen statt scherzen. Wenn wir mit unserem Essen reden. Und uns selbst. Gün aydin Yeter. Die Kinder Ihrer Schule werden denken, ich sei nicht ganz normal. Und sie haben Recht. Ich sage manchmal aus heiterem Himmel Entschuldigung zu einem Hund.

Was denken Sie? Sechzehn, ja, ich war lange die Jüngste. Das Militär hat uns älter gemacht, älter als achtzehn. Unter achtzehn gab es keine Todesstrafe. Manchmal geht Deutsch fremd, wenn ich über diese Zeit spreche. Es verlässt meinen Körper.

Meine Kinder wissen nicht, dass ich in der Türkei eine bekannte Person bin. Nicht nur der Polizei und dem gemeinen Dienst bekannt, sondern auch einer großen Öffentlichkeit. Auf einem Ordner zu Hause steht mein alter junger Name. Meine Kinder bringen ihn nicht mit mir in Verbindung. Das ist mir lieber. Sie sagen Mama zu mir auf deutsch und auf türkisch, Anne. Manchmal denke ich, ich bin zwei.

Als ich 1996 aus dem Gefängnis entlassen wurde, wusste ich nichts zum Leben. Wer war ich ohne die anderen Gefangenen? Was sollte ich den ganzen Tag lang tun außer überleben? Meine Zeit stand still. Ich war übrig geblieben. Nicht ermordet. Nicht lebendig. Irgendwo dazwischen passt keine Berufsberatung. Ich hatte alles gesehen, was niemand wissen wollte. Ich war niemand da draußen. Im Gefängnis war ich die Jüngste. Und Staatsfeind. Und nie allein. Draußen war ich nicht mehr sicher, keiner Sache und meiner selbst auch nicht.

Ich musste das Land verlassen, sofort. Ich habe gepackt wie für eine kurze Zeit lang, nicht für immer. Den Wohnungsschlüssel habe ich noch. Ankara. Ich werde bald wieder zu Hause sein, dachte ich. Seitdem ist er bei mir, der Schlüssel.

Wir haben viele Unsere verloren. Meine Gedanken gehen spazieren. Ich weiß nicht, wohin. Ich lache viel. Und drunter weine ich. Yeter Güneș. Genug Sonne. So heißt mein Name wörtlich übersetzt. Sie scheint nicht mehr in der Türkei. Meine Sonne.

<Dini entdeckt Fernland – Wann hört das endlich auf?!> Das Posting zeigt den durchgestrichenen Schriftzug ‚Dini Donnerstein Schule‘ und: #ich kann nicht mehr, #fernlandfightsback, #renametheschool, #decolonizeeducation

Die Schulleiterin klickt das Posting weg. Im Maileingang und auf den sozialen Medien tut sich mehr als in den gesamten zwei Jahrzehnten ihrer Direktion. Dini Donnerstein ist eine Kinderbuchfigur, denkt sie, was wollt ihr alle?

Bil sagt nicht, wie die Schule heißen soll, spricht nicht über die Forderungen der Aktivist:innen in der Aula, verteidigt weder sich noch die Schulleitung. Bil erzählt. Von Pullovermaschen. Erstaunten Hunden. Zitronenschrift. Umbauplänen für die Schul-WCs. Vom Fahnen Malen. Türkisch Lernen. Von Samstagsmüttern und Samstagskindern. Und von sich: Bil Billy Billie und viel mehr.

Wenn Menschen Pullover wären, würden sie andere wärmen. Sie hätten Muster im Kopf, von anderen Pullovern. Irgendwann würden sie ausleiern und Löcher kriegen im wollenen Gedächtnis.

Alle Textstellen aus: Lilly Axster, Der Pullover trägt mich nicht mehr

Großer Dank an:

Yeter Güneş für dein Vertrauen.


Louis Hofbauer, Nicole Suzuki, WG Verein für Barrierefreiheit in der Kunst, im Alltag, im Denken, Dilman Muradoğlu, Derya Önder, Reyhan Bilge, Nicole Heide, Gamze Ongan, Katja Langmeier, Christine Aebi, Sancı Kollektifi, Şükrü Duman, Corinne Eckenstein und Team der Theaterproduktion ‚Feuerrot‘, Oliver Schlecht und Verlag der Autoren, Anna Axster, Luka Staab und Edition Assemblage, Kulturverein Planet 10 Wien, Melike Eksik, Sevil Eder, Gorji Marzban
… für die Suche immer und immer wieder, Suche nach Ausdruck für das, was uns je einzeln und gemeinsam bewegt, für das Aushalten und Schätzen von Ambivalenz, für Feedback, Ideen, zusammen Denken und Leben, für 10 Jahre Zaglossus Verlag, für urheberrechtliche Infos gerade noch rechtzeitig, für Auseinandersetzung, für Freund:innenschaft, für ‚Yünden Bir Bellek‘, Korrekturen, Titel-Tests und alles geteilte Schöne.


Ezgi Erol: Das Buch basiert auf den 2012 mit dir gemeinsam geführten Gesprächen und Interviews mit
Yeter Güneş.


Araba Evelyn Johnston-Arthur: Das Buch basiert auf den von dir geteilten Erfahrungen mit dem Kinder-
literaturkanon in Österreich und unserem Austausch zu Astrid Lindgrens ‚Pippi Langstrumpf‘.


Henrie Dennis, Oluchukwu Akusinanwa, Muhammed Sherifa Hopeyemi, Noël Iglessias, Raymond Kalikwu and Angel, Pascal, Diana and Tony Ebo … for sharing your favorite authors.
Unoma Azuah School now!


Linda Nkechi Louis – Your legacy lives on. You are missed every day.


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Zweisprachige Lesung November 2021 aus den noch unveröffentlichten Büchern
Lesung_Nov_2021_YellaYella, Sena Dogan (Übersetzung), Yeter Güneş (Protagonistin), Lilly Axster (von l.n.r.)

Dokumentarfilm „Yeter Güneş – Sechs Jahre“

Yeter Güneş, Bernadette Dewald, Louis Hofbauer und ich haben am 18. Juni 2022 Premiere mit unserem Dokumentarfilm gefeiert. Material und Interviewauszüge auf Yeters Webseite.